Der weltreisende Performance-Künstler Helge Meyer
An die Grenzen und darüber hinaus
Von Florian Arnold

Das Jahr 2001 hat Spuren hinterlassen bei Helge Meyer. In den letzten Wochen hat der 32-Jährige den Kontakt zur Außenwelt abgebrochen, seine Wohnung in Woltwiesche kaum noch verlassen, alle Zeit seiner Frau Stefanie und seiner Tochter Marie gewidmet. Endlich einmal.
Trotzdem spricht die Erschöpfung noch immer aus Meyers schmalen, feinnervigen Zügen. Zugleich raut heimlicher Enthusiuasmus seine Stimme an, wenn er von seinen Erlebnissen erzählt. An der lettischen Grenze wurde er von erbosten Zöllnern mit vorgehaltenen Maschinenpistolen aus dem Reisebus gezogen, in China war ihm die Polizei auf den Fersen, und in einer Disko in St. Petersburg hätte ihn der Volkszorn fast von der Bühne gefegt. Nein, Meyer ist kein Geheimagent. Er ist Performance-Künstler, mit Leib und Seele.
Das ist wörtlich zu verstehen. Mit seinem Partner Marco Teubner geht Meyer unter dem Logo "HM²T" oft bis an die Grenze des körperlich Erträglichen - und für viele Zuschauer Zumutbaren. Bei einer Performance in Hildesheim, wo die beiden bis vor kurzem Kulturpädagogik studierten, rasierten sie sich gegenseitig vom Scheitel bis zur Sohle, beschmierten sich mit Fett und federten sich, reichten sich anschließend die Hände und nähten sie vor Ort zusammen - ohne Betäubung.
Mehr als Schockeffekte Ein kleiner, feiner Skandal, der in Hildesheim für Gesprächsstoff sorgte, was Meyer zugleich beflügelt und ärgert. "Performance wird oft auf die Schockeffekte reduziert", klagt er. Dabei gehe es HM²T im Gegensatz zu anderen, gefühlsgeleiteten Performern um die Vermittlung einer Idee. Meyer spricht vom Ringen um "Klarheit, Präzision", von endlosen Diskussionen, die er mit seinem nahe München lebenden Partner per Telefon führt, bis "eine Handlung in ein passendes Bild übersetzt ist". Darum geht es bei Performance-art.
Den gebürtigen Woltwiescher faszinierte diese so flüchtige wie intensive, in den 60er-Jahren geborene Kunstform schon zu Schulzeiten. Angeregt von seinem Ilseder Kunstlehrer Dieter Warzecha, machte er sie zum Mittelpunkt seines Studiums in Hildesheim. Zunächst theoretisch, mittlerweile liegt der Akzent eindeutig auf der Praxis. Ersten Aktionen folgten Einladungen zu weiteren Auftritten, dann zu Festivals - ein Schneeballeffekt, der im vergangenen Jahr zur Lawine wurde. Die beiden jungen Männer reisten um den halben Erdball, traten in China, Finnland, Japan und Russland auf, oft unter hanebüchenen Umständen, meist auf eigene Rechnung.
Nur selten waren die Bedingungen so ideal wie beim Festival in der japanischen Stadt Koshoku, wo den beiden im Juli zwei Wochen die japanische Kultur studieren konnten, um ihre Eindrücke am Ende performativ zu verarbeiten. Meyer nahm sich der damaligen japanischen Tendenz an, im Gefolge der USA das internationale Klimaschutzabkommen zu boykottieren. Er beschmierte die Brust mit blauer Farbe, riss Yen-Scheine zu Fetzen und klebte sie in die Farbschicht, geißelte sich dann mit einem Bambusstab, bis sich Striemen und Farbe zum Symbol der amerikanischen Flagge vereinigten.
Kaum Erträgliches ertragen "Der enge Kontakt zum Publikum ist für die Performance unerlässlich, er setzt Kräfte frei und hilft Dinge zu bewältigen, die sonst kaum zu ertragen sind", sagt Meyer. In den Köpfen seiner Zuschauer etwas in Bewegung zu bringen, nennt er als Ziel seiner "Werke". Das Wort ist ihm wichtig. Dass sie den Moment ihrer Aufführung nicht überdauern, stört ihn nicht. "Das haben sie mit Musik und Theater gemeinsam", sagt Meyer. Dokumentieren lässt er die Aktionen nur für Bewerbungen und für potenzielle Sponsoren.
Die zu finden sei schwer. Aus der Wirtschaft habe er bislang keine einzige Zusage erhalten, nur von staatlichen Stellen, dem Goethe-Institut etwa, sagt Meyer. Gleichwohl hat er sich vorgenommen, im kommenden Jahr ein Performance-Festival in der Region zu organisieren. Als Auftrittsort liebäugelt er unter anderem mit dem Ilseder Hüttengelände

Braunschweiger Zeitung, 03.01.2002